Wenn wir von bildender Kunst als Kunst sprechen, stehen wir auf schwankendem Boden. Betrachten wir beispielsweise die Reichenauer Buchmalerei um das Jahr 1000, sehen wir, wie auf höchstem intellektuellen und bildkünstlerischen Niveau Heilsgeschichte sinnlich erfahrbar gemacht wird. Aber von Kunst im modernen Sinn sprechen wir erst da, wo die herausragende Künstlerpersönlichkeit – bezeichnet als il divino, Genie, heute als Marke – auftritt. Deren Kunst kann religiöse Züge annehmen, wie etwa bei Caspar David Friedrich oder Joseph Beuys, oder sie wird zum überwältigenden, rein visuellen Erlebnis wie bei Pablo Picasso. Ein anderer Weg ist die Entsinnlichung, bei der das Kunstwerk mehr oder weniger hinter das Konzept zurücktritt, dessen Sinn im Kommentar (der oftmals nicht der einfachsten logisch-semantischen Analyse standhält) formuliert ist.
Copyright: Gerhard Schüler